«Die Schweiz ist keine Musterschülerin in Sachen Vogelschutz»

    Rund 40 Prozent der gut 200 in der Schweiz brütenden Vogelarten gelten als gefährdet, dreimal mehr als im europaweiten Vergleich. Livio Rey, Mediensprecher der Vogelwarte Sempach, gibt Einblick über den Zustand der Vogelwelt in der Schweiz, über besonders gefährdete Arten, über Schutz- und Fördermassnahmen und erklärt, welchen Beitrag jeder persönlich leisten kann, um unseren heimischen Vögeln eine gute Lebensgrundlage zu bieten.

    (Bilder: Lukas Linder) Im Besuchszentrum der Vogelwarte erleben die Gäste die Welt aus der Vogelperspektive: Sie schlüpfen aus dem Ei, begeben sich auf Nahrungssuche und erleben die Welt aus den Augen eines Zugvogels.

    Wie viele Vogelarten hat es in der Schweiz?
    Livio Rey: Etwa 200 Vogelarten brüten regelmässig in der Schweiz, weitere 100 Arten besuchen uns alljährlich als Zugvögel oder Wintergäste, brüten aber nicht oder nur ausnahmsweise in der Schweiz. Schliesslich gibt es rund 130 Vogelarten, die sich als Irrgäste nur einige wenige Male in die Schweiz verflogen haben.

    Wie hat sich die Vielfalt dieser Vogelarten im Laufe der letzten Jahre verändert?
    Die Entwicklung der Vogelbestände verläuft in den verschiedenen Lebensräumen unterschiedlich und hängt unter anderem davon ab, wie der Lebensraum genutzt wird. Aufgrund der vielerorts anhaltend intensiven Landwirtschaft sind seit den 1990er Jahren die Bestände zahlreicher Arten des Landwirtschaftsgebiets weiter zurückgegangen. Bei vielen Vogelarten der Wälder dagegen konnten in den letzten Jahren Bestandszunahmen verzeichnet werden. Einerseits hat generell die Waldfläche zugenommen, andererseits sind unsere Wälder inzwischen weniger stark aufgeräumt und weisen mehr Tot- und Altholz auf.

    (Bild: zVg) Livio Rey: «Der Zustand der Vogelwelt widerspiegelt den Umgang des Menschen mit der Natur.»

    Wie steht es um die heimischen Vögel in der Schweiz?
    Der Zustand der Vogelwelt widerspiegelt den Umgang des Menschen mit der Natur. Dieser Umgang unterscheidet sich von Lebensraum zu Lebensraum. Besonders prekär ist die Situation nach wie vor in den Feuchtbiotopen, wo 64 Prozent der Vogelarten auf der Roten Liste stehen (36 von 56 Arten), und im Kulturland. Hier ist mit 48 Prozent fast die Hälfte der Vogelarten bedroht (20 von 42 Arten), darunter auch viele einstige «Allerweltsarten» wie Feldlerche und Wachtel. Im Gegensatz dazu sind im Wald nur 15 Prozent der Brutvögel (9 von 59 Arten) auf der Roten Liste. Noch immer gelten rund 40 Prozent der rund 200 in der Schweiz brütenden Vogelarten als gefährdet, dreimal mehr als im europaweiten Vergleich. Damit rangiert die Schweiz auf einem der letzten Plätze in ganz Europa. In den letzten 20 Jahren hat sich die Situation insgesamt sogar leicht verschlechtert, weil immer mehr Arten als «potenziell gefährdet» eingestuft werden mussten. Der Anteil der Vogelarten in dieser als «Vorwarnliste» geltenden Kategorie stieg auf 20 Prozent. Die Schweiz ist also bei weitem keine Musterschülerin in Sachen Vogelschutz.

    Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf unsere Brutvögel?
    Die Klimaerwärmung hinterlässt ihre Spuren in der Vogelwelt. Während einzelne wärmeliebende, mediterrane Arten einwandern, sind insbesondere alpine Vögel wie das Alpenschneehuhn dazu gezwungen, in immer höhere Lagen auszuweichen. Die Anzahl geeigneter Reviere ist dort aber kleiner, was schlussendlich in einer Bestandsabnahme resultiert. Manche alpinen Arten wie Schneesperling und Ringdrossel sind zudem darauf angewiesen, dass die Jungenaufzucht in die Zeit der Schneeschmelze fällt, weil dann besonders viel Nahrung für die Nestlinge verfügbar ist. Mit fortschreitendem Klimawandel findet die Schneeschmelze immer früher statt, die Vögel können aber ihre Brut nicht beliebig weit nach vorne schieben. Dies kann langfristig zu Problemen bei der Jungenaufzucht und schlussendlich zu Bestandsrückgängen führen.

    Ein naturnaher Garten und Volieren laden im Besucherzentrum zum Verweilen im Aussenbereich ein.

    Viele Bergvögel haben in Europa seit den 1980er-Jahren deutliche Arealverluste erlitten, vor allem im Gebirge, die niedriger sind als die Alpen. Wieso das und was bedeutet dies konkret für die Schweiz als zentrales Alpenland?
    In den tief gelegenen Gebirgen Europas sind mittlerweile selbst auf den Gipfeln die Bedingungen ungeeignet für gewisse alpine Vogelarten, sei es, weil die Temperaturen zu hoch sind oder weil die Baumgrenze immer höher steigt. Diese beiden Faktoren führen auch dazu, dass der verfügbare Platz zu klein wird, um eine überlebensfähige Population zu erhalten. Die Alpen dagegen sind ziemlich hoch und bieten auch diesen kälteliebenden Vogelarten noch geeignete Lebensräume. Daher brüten etwa bei Alpenbraunelle, Ringdrossel, Schneesperling und Bergpieper über 10 Prozent des gesamten europäischen Bestands in unserem Land. Der Schweiz als Alpenland kommt daher eine hohe internationale Verantwortung für den Schutz und die Erhaltung dieser Gebirgsvögel zu.

    Welches sind in der Schweiz besonders gefährdete Arten und wie sehen Schutz- und Fördermassnahmen aus?
    Über 80 Brutvogelarten stehen auf der Roten Liste und gelten in der Schweiz als bedroht. Es gibt eine Vielzahl an Bedrohungen für diese Vogelarten, hier kann deshalb nur eine Auswahl vorgestellt werden.

    • Auerhuhn: Das Auerhuhn ist sehr störungsanfällig und leidet unter Freizeitaktivitäten in seinem Lebensraum. Zudem ist es auf spezielle Waldtypen angewiesen. Es kann durch störungsfreie Gebiete und Schutzzonen gefördert werden, ebenso durch gezielte Waldbewirtschaftung und der Förderung von lockeren, strukturreichen, Nadelwäldern mit einer gut ausgebildeten Krautschicht.
    • Flussuferläufer: Der Flussuferläufer bewohnt naturbelassene Flussufer und Auengebiete und brütet auf Kiesinseln. Diese sind in der Schweiz kaum mehr vorhanden, da die meisten Flussufer verbaut wurden. Kiesinseln werden gerade im Sommer oft auch von Erholungssuchenden in Beschlag genommen, weshalb der störungsanfällige Flussuferläufer kaum mehr Plätze zum Brüten findet. Er kann durch gute Besucherlenkung und Flussrenaturierungen gefördert werden.
    • Feldlerche: Die Feldlerche bewohnt vor allem offene Landwirtschaftsgebiete. Ihr Bestand geht durch die Intensivierung der Landwirtschaft zurück, etwa wegen zu kurze Mahdintervalle und übermässigem Pestizid- und Düngereinsatz. Sie kann durch eine Extensivierung der Landwirtschaft gefördert werden, vor allem mit Biodiversitätsförderflächen im Ackerland.
    • Braunkehlchen: Das Braunkehlchen brütet in weiten, strukturreichen, leicht gedüngten Wiesenlandschaften. Viele Wiesen werden heutzutage aber stark gedüngt, bewässert sowie früher im Jahr und grossflächiger gemäht, was auch die Insektenmenge verringert. Durch den immer früheren Mahdzeitpunkt werden sehr viele Bruten zerstört und sogar brütende Altvögel oder frisch flügge Jungvögel getötet. Nur wo Wiesen spät im Jahr (je nach Höhenlage Anfang bis Ende Juli) gemäht und nicht intensiv bewirtschaftet werden, kann das Braunkehlchen bei uns überleben.

    Menschliche Störungen, insbesondere Freizeitaktivitäten, führen zur Verminderung der Lebensqualitäten. Was können wir dagegen unternehmen?
    Bei Aktivitäten in der Natur, sei es Wandern, SUP, Skifahren oder Schneeschuhlaufen, sollte man sich immer informieren, wo es Schutzgebiete gibt und welche Regeln dort gelten. Es gehört selbstverständlich dazu, dass man sich auch an diese Regeln hält und für andere ein Vorbild ist. Auch ausserhalb von Schutzgebieten sollte man sich rücksichtsvoll verhalten: Brütende Vögel nicht stören, genügend Abstand halten und Vögel nicht zur Flucht zwingen, das bestehende Wegnetz nutzen, etc.

    Warum lohnt es sich, die Vogelwarte Sempach zu besuchen?
    Im Besuchszentrum der Vogelwarte erleben Sie die Welt aus der Vogelperspektive. Sie schlüpfen aus dem Ei, begeben sich auf Nahrungssuche und erleben die Welt aus den Augen eines Zugvogels. Am Ende können Sie dank eines einzigartigen Ringsystems herausfinden, welcher Vogel Sie sind. Daneben gibt es einen Film mit eindrücklichen Szenen unserer gefiederten Freunde und eine «Singfonie» zur Klang- und Kommunikationswelt der einheimischen Vögel. Zudem laden ein naturnaher Garten und Volieren zum Verweilen im Aussenbereich ein.

    Welche Prognose stellen Sie der Populationen unsere heimischen Vögel?
    Eine generelle Prognose lässt sich kaum stellen, da jede Art unterschiedlich auf Veränderungen reagiert und die Entwicklung der Vogelwelt wesentlich davon abhängen wird, wie der Mensch zukünftig seine Umwelt gestaltet. Vogelarten, die bestimmte Bedürfnisse an ihren Lebensraum stellen, stehen aber sicherlich vor grossen Herausforderungen und könnten langfristig sogar verschwinden, wenn wir nicht rasch aktiv werden und mehr naturnahe, störungsarme und gut miteinander vernetzte Gebiete schaffen. Im Gegensatz zu diesen «Spezialisten» geht es den sogenannten «Generalisten» wie Rabenkrähe, Amsel oder Kohlmeise derzeit relativ gut, da sie im Hinblick auf ihre Nahrung oder ihren Brutplatz weniger anspruchsvoll sind bzw. bisher gut mit der Art und Weise zurechtkommen, wie der Mensch mit der Natur umgeht.

    Interview: Corinne Remund

    www.vogelwarte.ch

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